„Ich weiß, dass ich nicht weiß, oder vielleicht habe ich Unrecht.“


Quelle: Sokrates und K. R. Popper



Warum hat in der Pandemie die Intensivmedizin häufig mehr Probleme geschaffen als gelöst?

Warum hat in der Pandemie die Intensivmedizin häufig mehr Probleme geschaffen als gelöst?



Oder: Die Laborwertemedizin und ihre Folgen. 

Hierzu gibt es eine Presseerklärung der DGP mit unserer Replik
Beitrag vom 25. April 2023

Autoren
Dr. med. Thomas Voshaar (Chefarzt, Lungen- und Thoraxzentrum Moers; Vorsitzender des Verbandes Pneumologischer Kliniken e.V.)
Prof. Dr. med. Dieter Köhler (ehemaliger Direktor, Krankenhaus Kloster Grafschaft, Schmallenberg) Prof. Dr. med Dominic Dellweg (Direktorder Klinik für Innere Medizin, Pneumologie und Gastroenterologie, Pius-Hospital Oldenburg)
Dr. med. Patrick Stais, LL.M., MHBA (Pneumologe, Lungen- und Thoraxzentrum Moers)
Dr. med. Peter Haidl (ehemaliger Direktor, Krankenhaus Kloster Grafschaft, Schmallenberg)
Dr. med. Thomas Hausen (Hausarzt im Ruhestand)
Priv. Doz. Dr. Andreas Edmüller (Philosophie, LMU München)
Prof. em. Dr. med. Dr. h.c. Peter Nawroth, em. Direktor Innere Medizin I und Klinische Chemie, Univ. Heidelberg
Prof. Dr. med. Matthias Schrappe (Internist, Universität Köln)
Prof. Dr. rer. nat. Gerd Antes (Mathematiker und Medizinstatistiker, Universität Freiburg)
Dr. phil. Andreas F. Rothenberger (Unternehmer & Philosoph, Fürstenfeldbruck)



Lass dir von keinem Fachmann imponieren, der dir erzählt: „Lieber Freund, das mache ich schon seit zwanzig Jahren so!“- Man kann eine Sache auch zwanzig Jahre lang falsch machen. 
(Kurt Tucholsky "Schnipsel", in: "Die Weltbühne", 8. März 1932, S. 378)


Fehler kosten Leben
Kurt Tucholsky trifft den Nagel auf den Kopf. Mehr als 20 Jahre werden Patienten allein aufgrund eines isolierten Sauerstoffmangels im Blut (Hypoxämie) intubiert und beatmet, oft gesteuert durch die einfache Messung der Sauerstoffsättigung (sO2) im Blut. Dieses Vorgehen ist als schwerer Behandlungsfehler zu werten, entbehrt dieses Vorgehen doch jeder wissenschaftlichen bzw. pathophysiologischen Grundlage.

Da man annehmen darf, dass niemand wider besseres Wissen handelt, müssen die Gründe woanders gesucht werden. Hierzu gehören Gewohnheit, eine Alltagserfahrung im Umgang mit Intubation und invasiv beatmeten Patienten, ein vermeintliches Sicherheitsgefühl, präemptives Handeln, aber auch zirkuläres Denken. Das Erstattungssystem unterstützt ebenfalls die gelebte Praxis. Seit deutlich mehr als 20 Jahren gibt es in der physiologischen und klinischen Forschung zahlreiche Belege, dass die invasive Beatmung, dort wo nicht indiziert, mehr schadet als nutzt. Selten steht eine etablierte klinische Praxis auf so schwachem Fundament. In der Pandemie ist das besonders deutlich geworden: Kliniken, die diesen Fehler nicht begangen haben, hatten eine etwa sechsfach geringere Todesrate bei der schweren Verlaufsform der Lungenentzündung (COVID-19).

Während der Corona-Pandemie wurde sehr früh deutlich, dass unter einer Strategie der frühen Intubation bei auch nur leichter Hypoxämie ca. 60-90% der Patienten unter diesem Vorgehen bereits nach wenigen Tagen, ein kleiner Teil sogar nach wenigen Stunden, starben. Daher gab es schon im April 2020 aus vielen Ländern kritische Fragen zu einem solchen Vorgehen und eine zunehmende Nutzung nicht-invasiver Verfahren. In Deutschland wurde allerdings besonders lange an der primären invasiven Beatmung über einen Tubus festgehalten.

Rechnet man die Daten aus unserer Veröffentlichung (Hypoxic, anemic and cardiac hypoxemia: When does tissue hypoxia begin? - PubMed (nih.gov) hoch, sind alleine in Deutschland bei vergleichbarem Schweregrad bei Aufnahme auf die Intensivstation bzw. im Verlauf der Erkrankung von COVID-19 schätzungsweise über 10.000 vermeidbare Todesfälle durch die vermeidbare Intubation verursacht worden, auch bei jüngeren Menschen. Weltweit dürften somit sicher weit über 100.000 Patienten betroffen sein. Die erheblichen Spätfolgen der unnötigen invasiven Beatmung sind dabei noch nicht einmal berücksichtigt.

Wie funktioniert der lebenswichtige Sauerstofftransport?
Die Ausgangsfrage besteht darin, wann der Organismus durch ein Defizit an Sauerstoff gefährdet ist, und wann mit den Mitteln der Intensivmedizin gegengesteuert werden muss. Das hat die Physiologen schon immer interessiert. Einer der Väter der Atemphysiologie, Scott Haldane, hatte in Selbstversuchen Hypoxieexperimente gemacht, und ist dabei zu einer Sauerstoffkonzentration von bis zu 1% heruntergegangen. Mehrere Tage hat er bei einer Sauerstoffkonzentration von 10% gelebt, was etwa eine Sauerstoffsättigung von 80% bedeutet. 1919 hat er sogar in einer Unterdruckkammer versucht, die Höhe des Mount Everest zu simulieren. Er hat dabei sogar wenige Minuten auf 8848 m ausgehalten, ohne sich je an die Höhe adaptiert zu haben, wie es die Extrembergsteiger heute tun.

Es gibt noch viele andere Beispiele, dass Gesunde wie Kranke mit einem Sauerstoffdefizit im Blut lange keine Probleme zeigen und dies auch keinen Schaden im Gewebe verursacht. Das hängt damit zusammen, dass der menschliche Organismus im Laufe der Evolution zahlreiche Sicherheitsmechanismen entwickelt hat. Es ist ein biologisches Grundgesetz, dass die Zahl der Sauerstoffmoleküle für die Energieversorgung der Zelle entscheidend ist. Die Anzahl, der für die Versorgung des Gewebes zur Verfügung stehenden Sauerstoffmoleküle spiegelt sich im Sauerstoffgehalt wieder, der aus der Hämoglobinkonzentration (Hb) und seiner Auffüllung mit Sauerstoff, der Sauerstoffsättigung (sO2), bestimmt wird.

Dieses biologische Grundgesetz wurde über entscheidende Experimente an Tieren gefunden, aber auch vereinzelt an Menschen in den fünfziger bis achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Der Sauerstofftransportweg von der Nase bis zur Zelle wird durch drei gleichwertige Faktoren bestimmt:

1. Menge des Hämoglobins
2. Sättigung des Hämoglobins mit Sauerstoff (sO2) 
3. Pumpleistung des Herzens.

In diesen Experimenten konnte eindeutig gezeigt werden, dass alle drei Variablen gleichwertig sind. Das ist im Wesentlichen Gegenstand des beigelegten Artikels.

Wir brauchen dringend neue Leitlinien für Intubation und Beatmung
Auf den Intensivstationen hat diese grundlegende Erkenntnis jedoch bis heute keinen Niederschlag gefunden. Nach wie vor werden die meisten Leitlinien davon bestimmt, dass ein Abfall der Sauerstoffsättigung ganz anders bewertet wird als ein Abfall der Herzleistung oder der Hämoglobinkonzentration. Die Leitlinien zur Bluttransfusion bei einem Blutmangel (Anämie) gehen beispielsweise davon aus, dass die Halbierung der Hämoglobinmenge für die meisten Patienten auf der Intensivstation noch keine Gefährdung darstellt. Eine Halbierung der Sauerstoffsättigung hingegen sei jedoch in höchstem Maße lebensgefährlich. Deswegen wird empfohlen (wie in der WHO-Leitlinie) bereits bei geringem Abfall zu intubieren, wenn es durch eine einfache nasale Sauerstoffgabe nicht besser wird.

Diese Praxis ist erstaunlich, gibt es doch für dieses Vorgehen keine überzeugende wissenschaftliche Evidenz. Dabei existieren eine große Anzahl von experimentellen Arbeiten zur Beatmung mit Intubation. Diese gehen davon aus, dass ein Sauerstoffmangel im Blut eine alternativlose Indikation zur Intubation und Beatmung darstellt. So gibt es viele Studien zur Beatmungsmethode A gegen B oder Medikament A gegen B. Es gibt aber keine einzige Untersuchung, die eine Intubation und Beatmung im Vergleich zu unterlassener Beatmung bzw. alleiniger Sauerstoffgabe untersucht hat. Dabei wäre eine Überprüfung durch einen Tierversuch problemlos möglich.

Überhaupt sollte bei den Patienten auf den Intensivstationen mehr auf die individuellen pathophysiologischen Zusammenhänge eingegangen werden. Dann ist es häufig auch nicht erforderlich, jeden von der Norm abweichenden Messwert therapeutisch anzugehen. Das bedeutet in vielen Fällen nur vermehrten Stress für den Organismus.

Intubation hat schwere Nebenwirkungen und Folgeschäden
Es hat sich also Intubation und Beatmung bei isolierter Hypoxämie als Konvention eingebürgert, obwohl diese Praxis durch die Pathophysiologie und die Mortalitätsvergleiche zur Nicht-Intubation längst als falsifiziert gelten müsste. Das Verhängnisvolle daran ist die große Anzahl von Nebenwirkungen durch die Intubation und die Beatmung. Besonders, wenn die Sauerstoffsättigung wie üblich in den unteren Normbereich angehoben wird. Um die als normal und „gesund“ geltenden Zielwerte zu erreichen, wird eine erhöhte Sauerstoffkonzentration zugeführt, was wiederum für viele Organe ein Gift darstellt (toxische Hyperoxie). Die zur Normalisierung der Sauerstoffsättigung erforderlichen höheren Beatmungsdrucke schädigen die Lunge zusätzlich, sodass ein Lungenversagen (ARDS) begünstigt wird. Gelingt das nicht, so folgt als nächste Eskalationsstufe eine extrakorporale Sauerstoffversorgung (ECMO), die aufgrund vieler Komplikationen die Mortalität weiter erhöht.

Weiterhin ist ein Schlauch in der Luftröhre bei wachem Bewusstsein nicht tolerabel, so dass eine Dauernarkose erforderlich wird. Diese führt nahezu immer zu einem schweren Blutdruckabfall, sodass mit blutdrucksteigenden Substanzen (Katecholaminen) gegengesteuert werden muss. All das zusammen führt zu schweren Folgeschäden, wobei neben dem Lungenschaden besonders die Muskel- und Nervenerkrankungen (Critical-Illness-Neuropathie, Myopathie, Delir, Post Intensive Care Syndrom) erwähnenswert sind. Viele Post-Covid-Syndrome nach Aufenthalt auf einer Intensivstation liegen nicht an der Viruserkrankung, sondern sind Folge dieser Therapie. Diese Problematik ist seit Jahrzehnten von vergleichbaren schweren Verläufen anderer Lungenerkrankungen bekannt.

Wie es besser geht
Zum Glück gibt es weltweit und insbesondere in Deutschland Kliniken, die sich an die pathophysiologischen Vorgaben halten und erst beatmen, wenn zusätzliche Komplikationen wie eine schwere Herzinsuffizienz oder eine belastete Atemmuskulatur mit erhöhter Kohlensäure im Blut (Hyperkapnie) vorliegen. In solchen Fällen ist die Ventilation der Lungen geschwächt, sodass sie durch äußere Kraft mit einer Beatmungsmaschine gestützt oder ersetzt werden muss. Dies gelingt in den meisten Fällen allerdings auch mittels Maske - ohne zu intubieren und die Patienten dauerhaft in Narkose zu versetzen. Unter der nicht-invasiven Beatmung (NIV) erhalten die Patienten eine Unterstützung ihrer Eigenatmung, bleiben wach, können kommunizieren, selbstständig Nahrung aufnehmen, sich (eingeschränkt) auch aktiv bewegen und es bleibt auch der Husten zur Reinigung des Bronchialsystems erhalten.


Die Fachgesellschaften müssen endlich handeln
Eine unnötige Intubation mit Beatmung bei isolierter Hypoxämie ist weiterhin die Regel, auch ohne das Coronavirus. Eine zusätzliche Tragik besteht darin, dass das medizinische Personal (Ärzte und Pflege) auf den Intensivstationen meint, alles richtig gemacht zu haben, weil die Leitlinien befolgt wurden. Es herrscht bekanntlich chronischer Personalmangel, weswegen sie die intubierten Patienten oft aufopfernd betreuen. Kritische Anmerkungen über die schwerwiegenden Folgen einer als falsch anzusehenden Therapie werden verständlicherweise als Zumutung betrachtet. Auch deshalb stehen die Fachgesellschaften in der Verantwortung, sich konsequent einer kritischen Debatte über diese Therapieform zu stellen: Sie setzen das medizinische Personal in der täglichen Arbeit nicht nur unnötigen Widersprüchen und Konflikten aus, sondern erzeugen einen entbehrlichen Personal- und Bettenengpass durch eine aufwendige und die Entlassung verzögernde Therapie. Verschärfend kommt die mittlerweile nicht mehr zu unterschätzende kritische Debatte in der Öffentlichkeit dazu.

Eine Orientierung am wissenschaftlichen Kenntnisstand würde also einerseits direkt Leben retten und andererseits indirekt zu einer deutlichen Entlastung der Intensivstationen führen, eines zentralen Segments unserer Gesundheitsversorgung sowie deren Folgekosten wie Reha, Vermeidung von Pflegebedürftigkeit, Arbeitsunfähigkeit und Weiteres.

Leider ignorieren viele Fachgesellschaften immer noch diese bekannten wissenschaftlichen Fakten. Die Zeit ist gekommen, das zu ändern und es endlich besser zu machen, sonst geht es die nächsten 20 Jahre so weiter.

Kommentare

Wie können Sie teilnehmen?

Sie können uns Beiträge/Kommentare schicken. Eine Veröffentlichung behalten wir uns vor. Ein Anspruch auf Veröffentlichung besteht nicht.
Unsere Richtlinien
  • Kommentare

    Antwort auf die Pressemitteilung der DGP vom 24. Mai 2023


    Die DGP (Deutsche Gesellschaft für Pneumologie und Beatmungsmedizin) hat am 24. Mai 2023 eine Pressemitteilung1 zu einem Beitrag in der Tageszeitung WELT2 veröffentlicht.

    Worum geht es?

    Der Artikel in der WELT bezieht sich auf eine Veröffentlichung des Vereins „Sokrates - Forum kritischer Rationalisten“3, welcher der DGP vorab bekannt war. Darin wird die Behandlung von schweren, mit Sauerstoffmangel einhergehenden Lungenerkrankungen auf Intensivstationen diskutiert. Es geht in erster Linie um Lungenentzündungen, besonders die COVID-19-Pneumonie. Aktueller Anlass für die Veröffentlichungen des Sokrates-Forums und der WELT war eine aktuelle wissenschaftliche Publikation in der DMW (Deutsche Medizinische Wochenschrift) von Mitgliedern des Sokrates-Forums.4

    Im Mittelpunkt dieser Veröffentlichung stehen Fragen zur invasiven maschinellen Beatmung (Beatmung mit Tubus), zur Bedeutung der leicht messbaren Sauerstoffsättigung (Laborwert) sowie zur Frage, ob während der Pandemie insbesondere in Deutschland zu häufig invasiv beatmet wurde, und dies zur hohen Sterblichkeit von Patienten mit schwerer COVID-19-Lungenentzündung beigetragen hat. Wie bei vielen anderen Aspekten der Aufarbeitung des Pandemie-Managements geht es auch in der (Intensiv-) Medizin darum, was richtig und was falsch war, und was man auch zu Beginn der Pandemie hätte wissen können oder müssen. Ziel ist es, in Zukunft Fehler zu vermeiden oder zumindest zu reduzieren.


    Die gesamte Replik finden Sie hier...

Aktuelle


Interviews

„Die Lockdowns haben die Pandemie beschleunigt“


Lungenfacharzt Dieter Köhler über tödliche Irrtümer in der Pandemie, nutzlose Corona-Maßnahmen und den mangelnden Mut der Ärzteschaft, Fehlurteilen zu widersprechen


Zum Interview

Covid: Schwere Vorwürfe gegen massenhafte künstliche Beatmung


Chefarzt spricht von 20.000 vermeidbaren Todesfällen während der Corona-Pandemie. Andere Ärzte widersprechen. Worum es bei dem Streit geht.


Zum Interview auf www.telepolis.de

Beiträge aus dem Archiv


  • Der Lufthygiene-Check

    Sichere Räume in einer Pandemie

    Zum Beitrag
  • Was ändert sich mit der vierten Welle?

    Clusterbildung, Selbstregulation und Ausbreitung in der Pandemie

    Zum Beitrag
  • Relevante Hygienemaßnahmen bei der Coronapandemie

    Beitrag vom 02.12.2021


    Dieter Köhler, Gerhard Scheuch, Thomas Hausen und Thomas Voshaar

    Zum Beitrag
  • Die halbe und die ganze Wahrheit zur Wirksamkeit der Corona-Impfungen

    Beitrag vom 09.12.2021


    Autor: Thomas Mansky

    Zum Beitrag
  • Leben mit Covid

    Untertitel hier einfügen
    Zum Beitrag
  • Long COVID und postinfektiöses Syndrom


    Zum Beitrag
  • Haben wir es geschafft? Kein COVID-19 mehr – nur noch „Omikronitis“!

    Untertitel hier einfügen
    Zum Beitrag
  • Lehren aus der Pandemie

    Untertitel hier einfügen
    Zum Beitrag
Share by: