„Ich weiß, dass ich nicht weiß, oder vielleicht habe ich Unrecht.“


Quelle: Sokrates und K. R. Popper



Long COVID und postinfektiöses Syndrom

Long COVID und postinfektiöses Syndrom


Beitrag vom 03.05.2022

Autoren:
Dr. med. Thomas Voshaar (Chefarzt, Lungen- und Thoraxzentrum Moers; Vorsitzender des Verbandes Pneumologischer Kliniken e.V.) 
Prof. Dr. med. Dieter Köhler (ehemaliger Direktor, Klinikum Kloster Grafschaft, Schmallenberg) 
Dr. med. Patrick Stais, LL.M., MHBA (Pneumologe, Lungen- und Thoraxzentrum Moers) 
Dr. med. Thomas Hausen (Hausarzt im Ruhestand) 
Prof. Dr. med Dominic Dellweg (Direktorder Klinik für Innere Medizin, Pneumologie und Gastroenterologie, Pius-Hospital Oldenburg) 
Prof. Dr. med. Matthias Schrappe (Internist, Universität Köln) 
Prof. Dr. rer. nat. Gerd Antes (Mathematiker und Medizinstatistiker, Universität Freiburg) 
Dr. phil. nat. Gerhard Scheuch (Physiker mit Schwerpunkt Aerosolmedizin)


Zum Begriff Long-Covid

Der Begriff Long-COVID wurde schon kurz nach Auftreten des neuen SARS-CoV-2-Virus benutzt, um unterschiedlichste Beschwerden zu kennzeichnen, die nach Abklingen der akuten Infektionssymptome anhalten. Dieser Begriff ist aus dem Alltag entstanden. Er bezeichnet Beschwerden, die nach der akuten Phase einer Infektion fortbestehen und davor mutmaßlich nicht oder nicht in gleicher Ausprägung vorhanden waren. Eine generell akzeptierte Definition gibt es bisher noch nicht. Die am häufigsten unter Long-COVID-Syndrom aufgeführten Symptome sind Erschöpfung (Fatigue), Schwäche, Kopfschmerzen, Konzentrationsstörungen, Leistungsminderung, Belastungsluftnot und Husten. 

Gelegentlich wird auch der Begriff Post-COVID-Syndrom verwendet. Mit Post-COVID-Symptomen werden in der Regel anhaltende, klar nachweisbare Veränderungen an einzelnen Organe gemeint, die in der Struktur (meist in bildgebenden Verfahren wie Röntgen oder MRT) oder funktionell (beispielsweise bei der Lungenfunktionsanalyse) nachweisbar sind und mehr als 12 Wochen andauern. 

Solche Symptome sind schon lange bekannt

Nach Infektionen durch unterschiedliche Erreger gibt es immer wieder multiple, manchmal sehr lang andauernde Beschwerden, die denen des Long -bzw. Post-COVID-Syndroms entsprechen. Die Ärzte unter den Autoren haben im Laufe ihrer Berufsausübung viele solcher Fälle gesehen. Häufig gibt es sie nach Viruserkrankungen, insbesondere Influenza, manchen Herpesviren und Epstein-Barr Virus (Pfeiffer’sches Drüsenfieber) aber auch nach bakteriellen Erkrankungen, wie Coxiellen und Legionellen. Die Symptome ähneln dem chronischen Fatigue Syndrom bzw. der myalgischen Enzephalopathie (ME/CFS). Allein das Stichwort „chronic fatigue syndrom“ führt in der medizinischen Literatursuche in PubMed zu Hinweisen auf 10.000 Literaturstellen, beginnend 1957. Das Stichwort „postinfectiöses fatigue“ ergibt ca. 2.000 Literaturstellen.

Wie kommt es dazu

Möglicherweise hängt es neben direkten Angriffen der Erreger auf die Zellen mit einer Überstimulierung des Immunsystems durch die Infektion zusammen. Nicht immer kämpft das Immunsystem nur gegen den Erreger sondern auch mitunter gegen körpereigene Zellen, die Virusbruchstücke enthalten können. Insbesondere wenn Teile des Erregers eine Ähnlichkeit mit körpereigenen Zellstrukturen haben, kommt es zu autoimmunen Prozessen an ganz unterschiedlichen Organen. Zudem können bereits vorhandene Autoimmunerkrankungen verstärkt werden. Andere Mechanismen sind meist viel komplexer und werden bisher nur unvollständig verstanden. 

Bei manchen Patienten werden auch die Erreger nicht komplett eliminiert, so dass eine chronische Infektion verbleibt. Generell legen die Literatur und die klinische Erfahrung nahe, dass die Schwere der postinfektiösen chronischen Erkrankung mit der Schwere der Infektionserkrankung zusammenhängt. Ein Teil dieser Symptome spricht auf Steroide an, d. h. mit Reduktion der Immunantwort werden die Beschwerden besser oder verschwinden.

Ähnliche immunologische Phänomene und klinische Syndrome gibt es auch nach Impfungen, wenn auch deutlich seltener. Insbesondere bei den neuen, im Langzeitversuch bisher ungeprüften mRNA-Impfstoffen scheint das Auftreten eines ME/CFS gehäuft vorzukommen. Jedenfalls gibt es dazu gerade in Deutschland bisher eine größere Dunkelziffer. Es ist in der Wissenschaft hinreichend belegt, dass chronische psychiatrische Leiden durch akute Erkrankungen demaskiert werden können (somatoforme Störungen). Die Suche in PubMed zeigt für „long covid syndrom“ ca. 1.500 und für “long term adverse covid vaccination” ca. 180 Literaturstellen.

Warum die Diagnose so schwierig ist

Eine verlässliche Diagnose ist schwierig, da nahezu alle Long Covid Patienten nicht diesbezüglich vor ihrer Erkrankung untersucht wurden. Das wäre aber für die Erfassung der Häufigkeiten (Prävalenz) wichtig. Die Prävalenzen für ein Long-COVID-Syndrom variieren erheblich zwischen den Studien. Darüber hinaus werden in den Studien unterschiedliche Definitionen benutzt, die Symptome zu unterschiedlichen Zeiten nach Ende der akuten Erkrankung erfasst und es gibt Untersuchungen in unterschiedlichen Altersgruppen. In manchen Studien fehlt zudem eine Kontrollgruppe, was auch die Aussagefähigkeit von Krankenkassen-Daten beeinträchtigt. Eine Studie zu Long-COVID bei Kindern berichtet, dass in der Kontrollgruppe mit Kindern, die niemals eine gesicherte Infektion durchgemacht haben, einige der Symptome ebenso häufig oder gar häufiger vorkamen als in der Gruppe der Infizierten (1). Das könnte ein Hinweis auf einen erheblichen Einfluss psychosozialer Faktoren sein, zum Beispiel durch die Lockdown-Maßnahmen. 

In einer der letzten Übersichtsarbeiten, vom RKI (2) als zentrale Publikation zum Long Covid Syndrom zitiert (3), wird bei nicht stationärem Aufenthalt von einer Prävalenz von 7,5-41 % gesprochen. Bei stationären Patienten läge sie bei 37,6%. Solche Prävalenzen sind unplausibel, denn es müssten von den vom RKI bisher gemeldeten Genesenen 23 Mio. Personen in Deutschland mindestens 1.7 Mio., im ungünstigsten Falle sogar 9.4 Mio. Menschen betroffen sein, was offensichtlich nicht der Fall ist. Eine Studie des Zentralinstitutes für die kassenärztliche Versorgung hat ergeben, dass von Januar bis September 2021 bei ca. 300.000 Patienten Long Covid als Behandlungsdiagnose dokumentiert worden ist, zumeist in der hausärztlichen Praxis (4). Allerdings hat die vereinfachte Codierung (U09.9) die differenzierte Erfassung des Long-Covid-Syndroms verschleiert, so dass die realen Zahlen niedriger sein dürften.

Ein weiteres Defizit der bisherigen Studien- und Datenlage: Bei den stationär behandelten Patienten wird meistens nicht zwischen beatmeten und nicht-beatmeten Patienten unterschieden. Die Gruppe der Überlebenden nach invasiver Beatmung leidet praktisch immer an schweren Komplikationen durch die Langzeitbeatmung, die unabhängig von der Grunderkrankung sind. Hierzu gibt es seit mehr als 20 Jahren eine überzeugende Studienlage - und die hauptverantwortlichen Krankheitsbilder wie intensivbedingte Nerven- und Muskelerkrankung sind ausreichend dokumentiert. 

Was schlagen wir vor

Um die aktuelle Studienlage aufzuarbeiten, sollte ein Gutachten, zum Beispiel beim IQWIG (5), in Auftrag gegeben werden. Besser wäre eine Kohortenstudie im eigenen Land zur Pandemie, die dann das postinfektiöse Syndrom mit einschließen würde. Nur über entsprechend große Kohorten, vielleicht je eine im Norden, Süden, Osten und Westen Deutschlands ließen sich entscheidende Informationen für zukünftige Infektionsgeschehen erlangen. Allein die sorgfältige Überwachung dieser begrenzten Personengruppe vor, während und nach einer Infektion wäre dann repräsentativ für den Rest der Bevölkerung. Das wäre ungleich billiger als jetzt flächendeckend wenig aussagekräftige Informationen zu sammeln. Die daraus gewonnenen Erkenntnisse wären um mehrere Größenordnungen solider als die derzeitige Datenlage, die oft auf zufällige Erhebungen beruhen, somit extrem von der untersuchten Gruppe und den Zeitpunkten abhängen. 

Die Quintessenz

Zusammenfassend können aufgrund der weltweiten und gerade in Deutschland noch schlechteren Datenlage zu dem Long Covid Syndrom nahezu keine verlässlichen Aussagen gemacht und deswegen auch keine politischen Konsequenzen gezogen werden. Es besteht zwar Handlungsbedarf, aber dieser betrifft nicht den ordnungspolitischen Maßnahmenstaat der beiden vergangenen Jahre. Vielmehr benötigt die deutsche Politik eine evidenzbasierte Wissenschaft, um die immer noch weitgehend unbrauchbare Daten- und Studienlage zu ändern. Erst forschen, dann handeln, so lässt sich das zusammenfassen.

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