Beitrag vom 28.07.2022
Autoren:
Dr. med. Thomas Voshaar (Chefarzt, Lungen- und Thoraxzentrum Moers; Vorsitzender des Verbandes Pneumologischer Kliniken e.V.)
Prof. Dr. med. Dieter Köhler (ehemaliger Direktor, Klinikum Kloster Grafschaft, Schmallenberg)
Dr. med. Patrick Stais, LL.M., MHBA (Pneumologe, Lungen- und Thoraxzentrum Moers)
Dr. med. Thomas Hausen (Hausarzt im Ruhestand)
Priv. Doz. Dr. Andreas Edmüller (Philosophie, LMU München)
Prof. Dr. med Dominic Dellweg (Direktorder Klinik für Innere Medizin, Pneumologie und Gastroenterologie, Pius-Hospital Oldenburg)
Prof. em. Dr. med. Dr.h.c. Peter Nawroth, em. Direktor Innere Medizin I und Klinische Chemie, Univ. Heidelberg
Prof. Dr. med. Matthias Schrappe (Internist, Universität Köln)
Prof. Dr. rer. nat. Gerd Antes (Mathematiker und Medizinstatistiker, Universität Freiburg)
Dr. phil. nat. Gerhard Scheuch (Physiker mit Schwerpunkt Aerosolmedizin)
Dr. Andreas F. Rothenberger, Fürstenfeldbruck
Worum geht es uns?
Seit Entdeckung des Virus SARS-CoV-2 beteiligen wir uns als Ärzte und Wissenschaftler mit unseren Positionspapieren
(1)
an der öffentlichen Debatte. Wir möchten auf Grundlage unserer langjährigen beruflichen und wissenschaftlichen Erfahrung Bürgern und Politik rationale und realistische Entscheidungshilfen in einer vorher so noch nie gekannten Gesundheitskrise anbieten. Unser Ziel: Durch Einordnung von Fakten Angst reduzieren, wirkungsvolles Handeln ermöglichen und so unserer Verantwortung als Experten gerecht werden.
Was haben wir in der Pandemie gelernt?
Eine Pandemie durch Atemwegsviren lässt sich vom Staat nicht präzise durch Kontrolle und Überwachung sozialer Kontakte steuern. Eine Zero-Strategie scheitert an der hoch effizienten Ausbreitung der Viren über die Atemluft und der schnellen Veränderlichkeit des Virus. Das Infektionsgeschehen verläuft deshalb komplex und teilweise chaotisch.
- Es können lediglich typische Situationen definiert werden, in denen die Infektionsgefahr besonders hoch ist (kleine Räume, viele Menschen, wenig Luftaustausch, lange Aufenthaltszeit) oder äußerst gering (Aufenthalt im Freien).
- Die Wahrnehmung zunehmender Infektionen im sozialen Umfeld führt zu raschen Verhaltensänderungen der Menschen und ist nicht vorhersehbar.
- Gleiches gilt für das Verhalten unter einem Ermüdungseffekt durch ständige Alarm-Warnungen bei zunehmendem Vertrauensverlust in Politik und Medizin.
- Es gibt zu viele sich rasch wandelnde und nicht erfassbare Parameter für genauere Vorhersagen zum Verlauf dieser Pandemie. Alle Hochrechnungen zum Pandemieverlauf haben das gezeigt.
- In mehreren Studien wurde recht überzeugend gezeigt, dass Lockdowns, wie in Europa und USA durchgeführt, nicht die erhoffte Wirkung zeigen (2).
Deshalb ist die wichtigste Erkenntnis: Es kommt in erster Linie darauf an, das eigenverantwortliche Handeln der Bürger konsequent zu stärken.
Die fundierte Information steht dabei an erster Stelle: Über das, was man weiß, aber auch über das, was man noch nicht weiß – oder unter Umständen in absehbarer Zeit nicht wissen wird. Ein Bürger, der z. B. die Prinzipien der aerogenen Übertragung und das Zusammenspiel von Impfung und natürlicher Infektion in Bezug auf schwere Krankheitsverläufe verstanden hat, wird sich besser schützen können und weniger Angst haben, als ein Bürger, dem einfach staatliche Maßnahmen übergestülpt werden.
Was hat funktioniert?
Diese Pandemie konnte in ihren gesundheitlichen Folgen erfolgreich eingedämmt werden. Fehlende Steuerbarkeit durch den Staat bedeutet also keineswegs Tatenlosigkeit: Wir waren und sind nicht hilflos.
- Impfstoffe waren schnell verfügbar. Ihr Nutzen etwa ab den Altersgruppen Ü 60 ist wissenschaftlich unbestritten. Dank der Impfung und der durch (wiederholte) Infektionen mit dem Coronavirus sich entwickelnden breiten Immunität in der Gesamtbevölkerung verlaufen die aktuellen Infektionen durch Omikron und seine Sub-Typen weitaus unkomplizierter als am Anfang der Pandemie.
- Der gezielte Einsatz von Masken in kritischen Bereichen wie Altenheimen, Kliniken und bestimmten Innenräumen war sinnvoll. Masken haben ihren Nutzen bewiesen, insbesondere bei der Reduktion von Todesfällen: Sie reduzieren die Konzentration der eingeatmeten Viren und verschaffen damit dem Immunsystem Reaktionszeit
(3).
Was hat sich verändert?
Heute stehen wir anders da als im Januar 2020.
- Mit dem Wandel des Virus und seinen Haupteigenschaften wie Infektiosität und Virulenz hat sich erwartungsgemäß das Krankheitsbild verändert. Die Erkrankungen nach Infektion mit der Omikron-Variante sind medizinisch nicht vergleichbar mit dem, was Mediziner in den Wellen durch die Varianten Alpha, Beta und Delta gesehen haben. COVID als schwere und auch lebensbedrohliche Erkrankung mit Lungenentzündung wird in den Krankenhäusern praktisch nicht mehr gesehen.
- Daher halten wir es für angebracht, die Bezeichnung nicht nur korrekt nach Art des Virus (z. B. SARS-CoV 2 – Omikron), sondern auch nach Art des klinischen Verlaufes zu wählen. Eine Omikron-Infektion ist im klinischen Verlauf so sehr anders, dass man nur noch den Begriff der Virusinfektion verwenden sollte. So wird das auch bei anderen respiratorisch übertragenen Viren gemacht.
- Es gibt mittlerweile Erfahrungen und überzeugende Verfahren zur erfolgreichen Behandlung auch schwerer Fallverläufe.
Unsere Zwischenbilanz im August 2022: Wir können uns auf den Effekt des veränderten Virus, der Impfung und vor allem den großartigen Lerneffekt und das Gedächtnis unseres breiten Immunsystems verlassen, denn fast alle von uns wurden geimpft bzw. hatten Kontakt mit dem Virus. In Ländern mit vergleichbarer Infrastruktur ist der Antikörpernachweis gegen den Coronavirus infolge Durchseuchung bzw. durch die Impfung bei über 99.% (4).
Wo muss staatliches Handeln besser werden?
Es wurde in den vergangenen Jahren leider sehr deutlich, dass überzogenes staatliches Eingreifen sehr leicht zu mehr Schaden als Nutzen führt:
- Die unprofessionelle Debatte über die Impfpflicht, die soziale Ausgrenzung ungeimpfter Mitbürger, eine fehlende klare Linie bei fast allen Empfehlungen und der Einschätzung von Risiken haben das Vertrauen in den Staat und die wissenschaftlichen Fachgesellschaften erkennbar belastet.
- Das Vertrauen in die Impfstoffe wird durch die aktuelle Diskussion über Impfnebenwirkungen und vor allem die starre, unwissenschaftliche Haltung des BMG gestört. Ein wichtiger Aspekt ist die ungenügende Verpflichtung der Firmen auf aussagefähige Studien. Aktuell wird zu sehr dem Zufall die Erkenntnis einer Nebenwirkung anvertraut. Besser wäre es, zum bewährten verpflichtenden Nachweis zurückzukehren, dass gravierende Nebenwirkungen nicht oder nur in geringem Umfang und vertretbarer Intensität auftreten.
- Besonders liegt uns das Thema der Impfung für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene am Herzen. Nimmt man schweren Verlauf und Todesfälle als Zielkriterien, dann lässt sich eine Wirksamkeit nicht nachweisen. Eine Impfempfehlung für diesen Personenkreis halten wir deshalb nicht für angemessen.
Diese Argumente sprechen natürlich nicht gegen die Impfung an sich, sondern zeigen: Wir benötigen dringend eine Rückkehr zu den klassischen und bewährten Standards der Immunologie und der klinischen Prüfung von Impfstoffen.
- Beim gegenwärtigen Übergang von der Pandemie zur Endemie sind Ansteckungsrisiko bzw. Infektionszahlen nicht mehr die entscheidenden Kennziffern. Kurz gesagt: Jeder wird sich am Ende anstecken. Der Staat handelt nicht verantwortungslos, wenn er eine Infektion mit nur geringem Risiko für schwerwiegende Verläufe zulässt und dabei nur die vulnerablen Gruppen schützt.
- In fast 3 Jahren Pandemie hat die Bevölkerung eine gewisse Routine entwickelt, um eigenverantwortlich mit dem Gefährdungspotential umzugehen. Viele Bürger haben schnell erkannt, dass Infektionen mit den aktuellen Virusmutationen sehr viel milder verlaufen als mit dem Wildtyp und den ersten Varianten. Vorsicht und Toleranz gegenüber unterschiedlichen Perspektiven bestimmen das Handeln der Menschen, so unser Eindruck. Diese Haltung sollte durch den Staat gestärkt werden. Dessen Handeln war leider wie die Medienberichterstattung zu oft von Hektik, fehlender Seriosität und Unversöhnlichkeit geprägt.
Wie geht es weiter?
Aus epidemiologischer und medizinischer Perspektive ist das Virus nach derzeitigem Sachstand keine Gefahr mehr für das Gesundheitssystem und die Bevölkerung. So ist die in diesen Wochen grassierende Sommergrippe bisweilen ein größeres Problem für die betroffenen Menschen als das in immer neuen Varianten zu findende Omikron-Virus. Damit bestätigt sich eine alte Erfahrung: Am Ende ist ein gut funktionierendes Immunsystem mit multiplen Infektionen die beste Medizin bei der Bekämpfung solcher Viren. Auch von anderen Viren ist bekannt, dass im Laufe der Zeit ein lernendes Immunsystem und ein sich änderndes Virus ein normales Leben mit dem Virus ermöglichen. Mittlerweile sind wir fast alle mit dem mutierten Omikron-Virus schon einmal in Kontakt gekommen: Entweder durch Infektion und/oder durch Impfung. Entsprechend reduziert sich das individuelle gesundheitliche Risiko durch die Stimulation des Immunsystems und die natürliche Veränderung des Virus.
Vor dem Hintergrund dieser Erfahrungen und Erkenntnisse geben wir folgende Empfehlungen für den kommenden Herbst und Winter ab:
- Wir müssen unser System der Kennziffern grundsätzlich neu justieren. Die Anzahl der Menschen mit Omikron-Infektionen in den Kliniken ist z. B. nicht mehr relevant. Nur die Anzahl ausschließlich schwerer Viruserkrankungen (mit Angabe des Virustyps) ist wirklich von Bedeutung.
- Der Staat hat somit keinen Regulierungsbedarf mehr, der über die klassischen Formen der Gesundheitsvorsorge hinausginge: Er muss die Bürger klar und offen auf Grundlage einer evidenz-basierten Wissenschaft und nicht auf Basis von Hochrechnungen epidemiologischer Beobachtungsstudien informieren. Dabei sind voreilige Schlussfolgerungen zu vermeiden, etwa ohne empirische Grundlage von der „Nebenwirkungslosigkeit“ von Impfstoffen oder einem „katastrophalen Herbst“ zu reden. Kurz: Staatliche Kommunikation sollte frei von Angstmache, faktenbezogen und konsequent an der Wissenschaft orientiert sein.
- Wir benötigen die Rückkehr zu einer verantwortungsvollen Beschaffungspolitik. Konkret: Der Staat muss getestete, wirkungsvolle und nach den bewährten Regeln zugelassene Impfstoffe in ausreichender Menge zur Verfügung stellen und dabei den Impfstoff immer gegen den sich auch künftig ändernden klinischen Verlauf der Coronaviren abgleichen – sofern SARS.CoV-2 eine reale Bedrohung bleibt, was im Moment nicht der Fall zu sein scheint. Der Umgang mit Influenza-Impfstoffen ist dafür das Erfolgsmodell.
- Zu den Pandemieschäden gehören auch Kollateralschäden (verzögerte oder fehlende Krankenhausbehandlung, Verschlimmerung psychiatrischer Vorerkrankungen, Entwicklungsstörungen bei Kindern usw.), deren Bedeutung im Sinne eines Gesamtschadens (Ressourcenallokation) bzw. der Verantwortungsethik viel mehr berücksichtigt werden müssen.
- Im Herbst 2022 werden wir keine Maßnahmen wie Lockdowns, Schulschließungen, ständiges Testen oder Maskenpflichten benötigen. Eine Krankschreibung sollte nur bei den wirklich Erkrankten erfolgen. Eine Quarantäne ist jetzt sinnlos und deswegen nicht mehr erforderlich.
- Wir sollten wieder den Leitgedanken des mündigen Bürgers in den Mittelpunkt stellen. Der Irrweg des ideologischen Glaubenskriegers in Wissenschaft und Medizin funktioniert nicht und schadet deren Ansehen enorm.
- Die wissenschaftliche Aufarbeitung der vergangenen Jahre ist unerlässlich. Der Bericht der Evaluierungskommission liefert dafür lediglich den ersten Schritt. Wir unterstützen deshalb alle Bemühungen, die in diese Richtung gehen. Unser Kernanliegen dabei ist bekannt: Ohne begleitende systematische Kohortenuntersuchungen und Grundlagenforschung bleiben viel politische Vorgaben ohne Grundlage und Überzeugungskraft.
Unser Fazit
Wir können diesem Herbst und Winter mit berechtigtem Optimismus entgegensehen, wenigstens beim Umgang mit SARS-CoV-2 und seinen Varianten. Unsere Erfahrung in Deutschland entspricht der in vielen anderen europäischen Staaten, die zumeist ganz auf Maskenpflicht und Tests verzichten – weil sie inzwischen eine gute Datenerfassung haben
(5). Daher die Antwort auf die Frage aus der Überschrift: Ja, wir haben es geschafft – und müssen trotzdem dranbleiben.
(3)
Unsere Sokrates-Arbeitsgruppe hat schon zu Beginn der Pandemie mit umfangreichen Experimenten gezeigt, dass sich das individuelle Ansteckungsrisiko bzw. die eingeatmete Virusmenge mit Masken und Raumluftfiltern deutlich reduzieren lässt.